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Titel
Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessinellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert


Autor(en)
Volkland, Frauke
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 210
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Vogel, Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Gegenstand der Studie ist das Verhältnis zwischen Angehörigen der reformierten und der katholischen Konfession in der Stadt Bischofszell im Schweizer Kanton Thurgau. Für diese Fragestellung interessant ist die Stadt deshalb, weil hier – auf der Grundlage des zweiten Landfriedens von 1532 – Angehörige beider Konfessionen in einem Gemeinwesen zusammenlebten. Untersucht wird das von beiden Seiten getrennt vollzogenen Ritual des „Hohlensteintags“, mit dem die Stadt der Rettung ihrer Bevölkerung bzw. ihrem Neuaufbau in den Jahren 1407/08 gedachte, überdies eine Störung der Fronleichnamsprozession im Jahr 1677 sowie die Umstände mehrerer aktenkundiger Konversionen.

Methodisch ist die Untersuchung durch das Konzept der Mikrohistorie bestimmt, die die Lebenssituation und Selbstwahrnehmung einzelner Menschen unter Heranziehung kulturwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Kategorien erforscht. Damit verbunden ist in dieser Arbeit das hermeneutische Prinzip der „dichten Beschreibung“ im Sinne von Clifford Geertz. Angesichts der Zeugnisse über „Lebensäußerungen“ in einem bestimmten kulturellen Kontext gehe es darum, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“ (S. 22). Für die Frühneuzeitforschung leitet die Verfasserin daraus die Formel „Konfession und Selbstverständnis“ (im Sinne eines dialektischen Verhältnisses beider Begriffe) ab, die sie ausdrücklich der Rede von der „konfessionellen Identität“ im Rahmen der Konfessionalisierungsforschung entgegenstellt.

Anhand des Hohlensteintags beschreibt Volkland zuerst die konfessionell bedingte „Spaltung des sozialen Körpers“ in Bischofszell (S. 49). Gerade hier besteht jedoch ein Quellenproblem, das die Verfasserin in ihrer Darstellung nur en passant erwähnt. Sie kann nämlich nur auf ausgesprochen späte Quellen zurückgreifen: zum einen auf eine Erwähnung des reformierten Rituals als Schulfest in der Schulordnung von 1675 (S. 55), zum andern auf chronikalische Aufzeichnungen des Stadtscheibers Johann Kaspar Diethelm aus der Mitte des 18. Jahrhunderts – in letzterem Falle wird das Fest nicht einmal in frühere Zeiten eingeordnet, sondern seine Geschichte exkursartig angesichts zeitgenössischer Vorgänge beschrieben. Dennoch rekonstruiert Volkland eine Geschichte des Rituals vom späten Mittelalter an. Zu Recht weist sie darauf hin, dass derartige Vollzüge sich häufig nicht in Schriftquellen niedergeschlagen haben; dennoch ist es problematisch, Diethelm ohne weitere Absicherung zur Darstellung von Vorgängen heranzuziehen, die Jahrhunderte zuvor stattgefunden haben. Dem entspricht, dass die Arbeit in diesem Kapitel insgesamt auf Referenzen aufbaut, die als fragwürdig zu betrachten sind und zumindest einer eingehenderen Begründung bedurft hätten. Selbst die herangezogenen Diethelm-Zitate folgen nicht dem (im Archivalienverzeichnis aufgeführten) handschriftlichen Exemplar, sondern der Veröffentlichung eines Lokalhistorikers von 1919 (S. 50, Anm. 6). Mehrfach werden zudem – als Beleg für Vorgänge des 16. Jahrhunderts! – Zeitungsartikel des Jahres 1910 herangezogen (S. 64f., Anm. 74, 78). So sinnvoll es ist, historische Arbeit durch die Rezeption kulturanthropologischer Konzepte zu bereichern, so wenig dispensiert dies von der Kärrnerarbeit der Quellenkritik.

Wesentlich quellengesättigter sind dann Volklands Ausführungen in den beiden anderen Kapiteln, die Vorgänge während des 17. und 18. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Hier kann der mikrohistorische Ansatz seine Überzeugungskraft entfalten. So gelingt es, die behandelte Störung der Fronleichnamsprozession durch eine musikalische Darbietung reformierter „Jungbürger“ als einen in seiner Form und seinen Konsequenzen ausgesprochen durchdachten Akt der Provokation zu beschreiben, der auf eine Verhöhnung der Eucharistie hinauslief und zugleich – durch Einbeziehung geeigneter Zeugen – so angelegt war, dass eine Bestrafung wegen Landfriedensbruchs nicht möglich war. Bei den Konversionen kann herausgearbeitet werden, dass dieser Schritt in aller Regel in einem untrennbaren Zusammenhang mit bestimmten sozialen Faktoren stand. Neben Eheschlüssen sind dies vor allem Karrierehoffnungen, aber auch familiäre Zerrüttungserscheinungen. Religiöse und andere anthropologische Faktoren sind untrennbar – und in einer angesichts der Quellenlage im Einzelfall oft nicht aufhellbaren Weise – miteinander verknüpft. In diesen Abschnitten erweist sich die „dichte Beschreibung“ als fruchtbare Methodik.

Getreu dem mikrohistorischen Ansatz, Lebensvollzüge und Lebensdeutungen von Einzelnen ins Zentrum zu stellen, lehnt Volkland es ab, das über die Konversionen vorliegende Quellenmaterial statistisch auszuwerten; ihres Erachtens sind die Quellen aufgrund ihrer Beschaffenheit (z.B. Visitationsberichte mit der Neigung, das Phänomen als möglichst geringfügig darzustellen) dazu auch nicht geeignet. Eine kritische Rückfrage verdient freilich ihre gegen Ende des Kapitels über die Konversionen immer deutlicher werdende Neigung, das Konfliktpotential des religiösen Faktors generalisierend abzuwerten: „Im Falle der Konversionsproblematik verschwindet das, im engeren Sinne des Wortes, ‚Religiöse‘, auf Kosten der sozialen Strukturen aus dem Blickfeld“ (S. 176). Dies mag in dem einen dort geschilderten Fall zutreffen; unter Berufung auf französische Forschungen (Elisabeth Labrousse) postuliert Volkland aber, dass die Bevölkerung – anders als die Theologen – die konfessionellen Grenzen als eher fließend wahrgenommen habe. Konversionen erscheinen dann als Ausdruck dafür, dass beide Seiten sich eines religiösen Grundkonsenses bewusst waren und die Beziehung beider Seiten „vor dem Hintergrund eines den Konfessionen zumindest teilweise gemeinsamen religiös-kulturellen Systems“ deuteten (S. 181). Hier ist zu fragen, ob Volkland nicht die Kategorien und Selbstverständlichkeiten der Gegenwart in die Quellen hineinprojiziert. Gerade die zuvor geschilderten Vorgänge (getrennter Festvollzug, Verspottung des Fronleichnamsfests) sprechen als solche eine andere Sprache.

Der hohe methodische Anspruch, in diesem Buch eine Alternative zum Konfessionalisierungsparadigma zu entwickeln, wird in dieser Untersuchung also allenfalls in Ansätzen eingelöst. Schließlich muss auch beachtet werden, dass das, was hier mikrohistorisch herausgearbeitet worden ist, wesentlich durch „makrohistorische“ Rahmenbedingungen bestimmt ist: nämlich die vom Hauptstrom der Entwicklung abweichende Gestalt der „Verdichtung“ von Staatlichkeit gerade in dem untersuchten Raum. All dies ändert aber nichts daran, dass Volkland die Diskussion über die Konfessionalisierung durch eine interessante Perspektive bereichert.

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